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klanghalt 23 - 2. Mai 2020
„Entrüste dich nicht über die Unheilstifter“ – Ps. 37


Wortbild

   
«dahinschwinden»  © Kay Appenzeller



 
zu Psalm 37



Herr

Mein Herz ist schwer. DU sagst, ich solle mich nicht aufregen darüber, was geschieht. Was mir geschieht und allen anderen hier. Ich solle still sein. Es geht einem am besten, wenn man still ist. So still, dass man eigentlich gar nicht da ist. Die Augen gesenkt und wie gesagt: möglichst unsichtbar.
Denn gesehen werden, das ist gefährlich, Herr. Es heisst, DU sehest alles. Dann muss ich dir ja nichts erzählen. Dann weisst DU ja alles und rätst mir zu warten, bis sie verdorren.

Verdorren? Verwelken? Vertrocknen? Die?

Hier schreien uns die Einheimischen an: Verschwindet! Verreckt! Verpisst euch!
Sie schreien es in ihrer Sprache. Man kapiert es auch ohne zu verstehen.
Nur, wohin soll ich?, Herr. "Schlampe" hat mir einer zugerufen. Ich glaube, einer von uns, also ich meine aus dem Camp, hat ihm erklärt, wie das in unserer Sprache heisst. "Schlampe". (Elkelba tu)
Ich habe die beiden miteinander reden sehen vor dem Camp. Jetzt dürfen wir ja nicht mehr hinaus.
Und niemand darf herein.

Die Bösen würden ausgerottet, sagst DU, Herr?
Ihre Tage seien gezählt?

Wie muss man diese Tage zählen?
Wer sind die "Bösen" und zu welchen werde ich gezählt?
Wer sind die Gerechten?
Wer die Gesegneten?

Heute fragte mich einer, wie alt ich sei.
Ich habe nichts gesagt, nichts, es hilft nichts, Herr.

Ich bin fünfzehn, Herr, aber das weisst DU ja auch.

Treu sein? Bleiben, wo man zuhause ist? Ich habe kein Zuhause, Herr.

Wo denn, Herr, hätte ich bleiben sollen? Wohnen sollen. Es gibt dort, wo ich herkomme, nichts mehr. Nur noch Steinhaufen. Schutt und Asche. Auch meine Schulbücher sind weg. Alles ist weg.

Auch die Menschen, die zu mir gehören, sind weg. Ich weiss nicht, wo sie sind. Ob sie noch leben? Mein Bruder, den wir halb tot im Hof fanden. Und Sema, meine kleine Schwester. Ich weiss nicht, wo alle sind.

Auch unsere Kirche haben sie zerstört. Der Gott, zu dem wir beten, sei nicht der richtige Gott. Nur ihrer sei der richtige, sagten sie, als sie kamen.

Ich bin ja still, lieber Gott! Mucksmäuschenstill bin ich! Auch wenn es in der Nacht so kalt ist, dass meine Zähne klappern. Und Hunger habe ich auch. Meine Fingernägel sind schmutzig. Die Zehennägel auch. Meine Kleider stinken.

Ich kann nicht lachen, Herr.
Ich kann aber auch nicht weinen.

Heute habe ich mit den Kindern vom Nachbarzelt ein Himmel-Hölle-Spiel im Dreck ausgelegt. Schön sah es aus. Eingefasst mit Kieselsteinen.
Dann kam so ein Idiot und schüttete einen Kübel Schmutzwasser genau dort aus.

Es gibt sieben Todsünden. Das habe ich gelernt. Es gibt ein Bild von einem Drachen. Aus dem Hals wachsen sechs kleine Drachen mit langen Hälsen. Eine Todsünde ist der Zorn.

Was ist Zorn, Herr?
Ist es Zorn, wenn ich eine leere Plastikflasche so oft gegen den Kopf schlage, dass es schneller schlägt als mein Herz?
Ist es Zorn, wenn ich keine Lust habe, schon wieder eine halbe Ewigkeit in einer Schlange zu stehen?
Ist es Zorn, wenn ich diesen Ort verfluche?
Ist es Zorn, wenn ich nicht mitgehen will, wenn mich die Typen holen?
Ist es Zorn, wenn ich sie "Affen" nenne und sie mich ins Gesicht schlagen?
Ist es Zorn, wenn ich zu dir bete, sie mögen zu Zedern sich verwandeln und nichts passiert?
Nicht das kleinste Wunder?

Ist es Zorn, wenn ich einfach zurück in meine Schule will?
In mein Haus?
Zu meinen Eltern?
Zu Sema und meinem Bruder?

Manchmal höre ich in der Morgendämmerung Vögel singen. Und das Meer, die Wellen höre ich.
Alles  tut mir weh, Herr.
Aber DU sagst, Herr, DU  wirst sie retten, die Niemandmenschen.



Psalmblatt 23
Text zu Psalm 37: Brigitte Schmid-Gugler